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Marillion

Interview 1999

“Marillion.com” heißt das neue Werk, und es ist, mal wieder, eine Veränderung zum Vorgängeralbum: dieses Mal eine für Marillion-Fans willkommene, denn viel schlimmer als auf “Radiation” konnte es für viele nicht werden. Ein Album im alten Stil ist´s trotzdem nicht, vielmehr ein relativ fröhliches Pop-Album mit ein paar Referenzen zu frühen Tagen, was die Melodik betrifft. Und zwei lange Abschlusssongs gibt es auch, “Interior Lulu” und “House” machen allein 25 Minuten aus und verbinden elegant alte epische Songelemente mit neuen Sounds. Ein schönes Album, zu dem Gitarrist Steve Rothery und Sänger Steve “H” Hogarth gerne Rede und Antwort standen.

 

Hallo Steve, es ist ja eher selten, dass du Interviews gibst, oder?

Steve R: Ja, normalerweise ist Mark mit dabei, aber der programmiert gerade seine Keyboards für die Tour.

Wie siehst Du das neue Album?

Steve R: Jedes Album, das wir machen ist sowohl eine Art Reaktion auf das vorige, als auch der Versuch, immer neue Bereiche für uns zu ergründen, und ich denke das neue Album ist da eine gute Balance davon.

Was bedeutet Reaktion auf das vorige – der Vorgänger “Radiation” war ja eigentlich das radikalste Album das ihr je gemacht habt...

Steve R: Ja, das stimmt wohl. Aber ich meine “Holidays...” war ein Pop-Album, “Brave” war eher düster, “Afraid..” war eine Reaktion darauf, “Strange Engine” hatte viel Akkustik-orientierte Sachen und “Radiation” hatte einen sehr rauhen Sound und “Marillion.com” nimmt sich ein wenig die Seiten vor, die auf “Radiation” schon vorkommen, aber eben nicht so stark. Der Sound ist nicht so rauh, ein paar Psychedelic-Einflüsse, “Spät-60er-Einflüsse” manchmal. Ich meine, was heißt Reaktion? Wir kriegen ja mit, was in der Musikszene passiert und wenn man ein Album macht, ist man immer beeinflusst von der Musik, die man gerade hört – ob das nun Pink Floyd ist oder Massive Attack.

Das betrifft jetzt aber hauptsächlich die beiden letzten (Long-)Tracks, “House” und “Interior Lulu”...

Steve R: Ja, da sind die neuen Einflüsse am deutlichsten, die anderen haben z.B. “Rich” auch einen Doors-Einschlag, “Enlighten” haben vielleicht ein bisschen Hendrix/Fleetwood Mac-Atmosphäre, wir versuchen nun einmal, einen breiten Soundbereich auf jedem Album zu haben, von daher gibt’s glaube ich auch immer Parallelen.

Ein bisschen unglücklich, dass Jethro Tull gerade den selben Namen gewählt haben, oder?

H: Ja, unglücklich ist wohl das richtige Wort. Ich meine, wir wussten davon, aber wir hatten den Titel schon mitten während der Aufnahmen gewählt, und wir dachten schließlich, dass es zu viele guten Gründe geben würde, unser Album trotzdem so zu nennen.

Welche Gründe sind das?

H: Unsere Website ist sehr wichtig für unsere Arbeit geworden, für den Kontakt mit unseren Fans und für die Fans, um zu sehen, was wir machen, wie wir vorankommen Über die Jahre hat sich die Band in der ganzen Welt eine so große Fanschar erspielt, und diese Stelle ist ein weltweiter Marktplatz für sie geworden. Von wo sie auch kommen, sie können so dicht an der Band sein. Und weil wir auch immer mehr über die Website machen, mit Mailinglists u.ä., lag es einfach zu nahe, dieses Album danach zu benennen.

Also ist die Textzeile “Thank God for the Internet” im Song “Interior Lulu” ist nicht ironisch?

H: Nicht ironisch. Was der Song sagt, ist, dass man Menschen nun so nahe sein kann, ohne in einem Raum mit ihnen zu sein, was viel aussagt über das soziale Zusammenleben aussagt. Der Vorläufer davon war ja das Telefon, aber als ich ein paar dieser “Internet-Chats” bei der Promotion meines Soloalbums gemacht habe, habe ich gemerkt, wie schnell man sehr intim werden kann mit Leuten, die man gar nicht kennt. Es ist eine Mischung aus einem Brief und der Geschwindigkeit eines Gesprächs. Und es war immer leichter, in Briefen intim zu werden, als im Gespräch. Und der Song sagt nur, wie sehr sich das soziale Miteinander verändert. Man starrt doch den ganzen Tag nur noch auf Bildschirme.

Was heißt der Titel eigentlich, klingt ein bisschen glitschig...

H: Nein, “Lulu” ist eine Bezeichnung für jemanden, der ein bisschen verrückt ist, und “Interior Lulu” beschreibt die Innensicht eines etwas Verrückten.

 

[  Ergänzung:

Kannst Du mir ein bisschen über die anderen Texte erzählen.

H: “A Legacy” ist darüber, was man zurücklässt, vor allem emotional, wenn man jemanden verlässt, “Deserve” sagt im Prinzip nur, dass wir bekommen, was wir verdienen. Es sind immer die anderen, die alles haben, nur ich selber bin so arm dran. Die Menschen aus den Magazinen führen ein Leben in Saus und Braus, und ich habe nichts von all dem, aber eigentlich liegt es nur an dir selbst, was du aus Deinem Leben machst oder gemacht hast. Gleichzeitig stellt der Song aber auch in Frage, ob das Leben, was wir in den Magazinen sehen und für so toll halten, wirklich aus der Nähe betrachtet noch so erstrebenswert ist. Die haben Streß und Spannungen und zahlen ihren Psychiater, anstatt wirklich Freunde zu haben.

“Rich” ist auch ein Popsong, wohl sogar der fröhlichste, den wir je hatten. Ich habe eigentlich nur positive Statements und Redensarten gesammelt und sie aneinander gehängt. Und der Refrain ist im Prinzip eine Absage an alles, was ich in den letzten Jahren geschrieben habe. Ich habe so viele traurige und düstere Texte geschrieben, ich brauchte diese Art Gegendarstellung.

“Go” ist ein Song darüber, wie man sein Leben ändert, wie man Sachen anders sieht, wie man sich das, was man selbst für sich darstellt, ändert. Eigentlich mein Lieblingsstück auf dem Album momentan.

“Tumble down the Years” ist über eine sehr lange Beziehung, fast geschrieben aus der Perspektive von alten Leuten, wie eine Lebensgeschichte einer Beziehung. Die meisten Liebeslieder sind entweder über die Liebe oder über den Schmerz, wenn etwas schiefgelaufen ist, dieser Song ist über alles zusammen.

“House” ist ein bisschen über meine eigene Beziehung als sie ein wenig brüchig war. Es geht im Endeffekt um das Haus, in dem ich lebe, darum wie das Haus all diese Erinnerungen bewahrt und alles was darin passiert. In diesem Sinn liegt über jedem Haus ein Spuk.  ]

 

 

Nochmals zum letzten Album: wie waren insgesamt die Reaktionen?

Steve R: Also wir hatten einige unserer besten Reaktionen seit Jahren, manche wiederum fanden das Album etwas rauh, aber so ist es immer. Man muss schon mal Risiken eingehen, man muss sich schon die Freiheit nehmen können, etwas neues auszuprobieren.

Wenn’s die besten Reaktionen gab, warum ist das neue Album dann wieder so melodisch – ist das nicht ein Schritt rückwärts?

Steve R: Nein, rückwärts glaube ich nicht. So radikal anders kann man nun auch wieder nicht mit jedem Album sein, dann hätten wir vielleicht ein Dance-Album machen müssen... nein, es ist ja auch nicht so, dass wir uns vornehmen, was wir für ein Album machen. Wir kommen zusammen, jammen, improvisieren und erst dann schauen wir uns das Material an und kucken, wohin uns die Inspiration dieses Mal getragen hat.

Beim letzten Interview hattest du über das aktuelle Album ein paar kurze treffende Ausdrücke – hast du die auch über das neue?

H: Abwechslungsreich, das ist glaube ich, was das Album am besten beschreibt. Und es ist das positivste Album, das ich je gemacht habe. Und das, das die größte Bandbreite an Stilen abdeckt.

H, Du bist 10 Jahre in der Band – ist es eher “oops, schon”, oder eher “ach, nur 10 Jahre”?

H: Es fühlt sich fast länger an, weil wir schon so viel gemacht haben. Jedes Jahr war so vollgepackt, das habe ich früher in 3 Jahren nicht gemacht und erlebt. Von daher könnte man fast denken, es wären schon mehr gewesen. Gleichzeitig hat sich das Konzept von 10 Jahren bei mir auch geändert. Je älter man wird, desto weniger sind 10 Jahre. Zwischen 35 und 45 (auch wenn ich noch keine 45 bin...) ändert sich für einen selbst auch nicht mehr so viel. Am Anfang meiner Zeit bei Marillion hat sich natürlich eine Menge getan und ich musste vielen etwas beweisen, aber die letzten Jahre war das ja nicht mehr so extrem.

In den letzen Jahren habt ihr jedes Jahr ein Album veröffentlicht – seid ihr so kreativ, oder müsst Ihr Euch zu dieser Geschwindigkeit zwingen?

H: Nein, wir müssen uns schon zwingen. Etwas aus dem Nichts zu schaffen, wenn man muß, ist eigentlich eines der unangenehmste Gefühle der Welt.

Habt ihr diesen Druck?
H:
Ja, immer. Aber der weicht, sobald man ein paar Takte Musik gefunden hat, von denen man glaubt, dass sie etwas besonderes sind. Dann schwingt das sehr bald um in ein Stimmungshoch. Allerdings lässt einen der Wille, das beste zu schaffen, was man je geschaffen hat, auch dann nicht los. Und je mehr Alben man gemacht hat, desto schwieriger wird das natürlich.

Steve R: Ich denke, v.a. deswegen versuchen wir auch mit jedem Album etwas neues zu machen.

Welches Album ist denn Dein Lieblingsalbum? Ist das neueste immer das beste?

H: Nun, das neueste Album ist ein wenig wie die aktuelle Freundin, oder? Du kannst noch nicht beurteilen, ob sie die beste ist, man muss das erst aus der Entfernung betrachten könne. Und deshalb kann ich noch nicht sagen, welchen Wert “Marillionm.com” haben wird. Deshalb glaube ich, mein Lieblingsalbum  ist “Afraid of Sunlight”

 

Ralf Koch