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Interview 2013

 

Mit “naïve” (2002), “voices” (2006) und “anti-matter poetry” (2010) hat sich der Hannoveraner Multiinstrumentalist Thomas Thielen als genauso experimentierfreudiger wie perfektionistischer Musiker beweisen und etablieren können. Mit seinem neuen Album „Psychoanorexia“ setzt er überraschend starkt auf melodische Stimmungen und viel Atmosphäre, was durchaus im Gegensatz zu früheren Alben und Einstellungen zu stehen scheint. Da mussten wir doch genauer nachfragen, wie der Solokünstler und diese Entwicklung selber sieht – und vielleicht sogar erklären kann. Ralf Koch hakte nach.

 

Würdest Du mir zustimmen, dass das neue Album einen Tick melodischer & harmonischer ausgefallen ist?

Wenn du das so empfindest, wird das (für dich) wohl so sein! Ich tue mich sehr schwer mit Einschätzungen dieser Art... wenn du an den frickeligsten 30 Sekunden mal 600-700 Durchläufe mit Einspielen, Arrangementanpassungen, Soundverbesserungen etc. hinter dir hast, geht dir so ziemlich alles ins Ohr. Allerdings sind die Lyrics bei weitem bissiger und böser als auf den Vorgängern, wo sie introvertierter und eher bedächtig ausgefallen sind, wenn man Psychoanorexia daneben legt.

Ich kann ganz gut nachvollziehen, was du meinst: Ich habe diesmal versucht, die Songideen, also sowas wie die “Essenz” der Musik, stärker zu erspüren und diese kompromissloser in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn also “coole”, aber dem Gesamtkontext nicht strikt dienende Ideen mit  rein zu tröpfeln schienen, habe ich das auf Anti-Matter Poetry z.B. eher zugelassen, auf Psychoanorexia eher wieder rausgenommen. Dadurch entsteht eine musikalische Struktur, die eindeutiger ist und in der alle Instrumente sich noch mehr als Teamplayer verstehen, während ich bei Anti-Matter Poetry auch oft die Instrumente zu einer Art Wettkampf losgeschickt habe. Interessanterweise haben beide Alben dadurch übrigens auch recht klar voneinander getrennte “Fan”-Schaften.

 

Du hattest also auf früheren Alben schon eher den Ansatz "Hauptsache proggy"? Ich dachte der Song steht immer im Vordergrund bei Songwritern...  

Nee, den Ansatz hatte ich nie. Das Attribute “proggy” impliziert ja eine gewisse Genre-Zugehörigkeit, was Stilmittel und, ich sag mal, strukturelle Konventionen angeht. Im Gegenteil habe ich gerade auf Anti-Matter Poetry und noch mehr auf Voices bewusst externe Faktoren betont – eben viel bewusster als auf Psychoanorexia. Psychoanorexia ist in seiner Ausrichtung eher ein Melting Pot, während man auf den Vorgängern deutlich stärker den Salad Bowl raushört.

 

Und klar voneinander getrennte “Fan”-Schaften heißt, dass das neue Album bei den alten Fans nicht so gut ankommt? (und dafür endlich ein paar Frauen im Publikum sind (um mal Ray Wilson zum Erfolg von "Follow you, follow me"  zu zitieren)

Das ist wirklich so! Gerade Anti-Matter Poetry hatte fast nur männliche Ohren angesprochen. Voices z.B. war hingegen viel mehr beim weiblichen Geschlecht beliebt, Naive sowieso. Es ist nicht so krass, dass ich von einer Spaltung sprechen würde, aber es gibt schon immer wieder Stimmen, die entweder betonen, dass ihnen Psychoanorexia zwar gefalle, aber die Verspieltheit und der Sturm und Drang von Anti-Matter Poetry fehle. Andersrum schrieben einige Rezensenten, dass die Kompositionen nun deutlich reifer und konziser gelungen seien. Ich kann beide Sichtweisen gut nachvollziehen.

 

Es gibt ein paar Ansätze für Vergleiche – ich habe z.B. Deinen "Namensvetter" (aus Ausführlichkeits-Sicht) h genannt... Marillion spielst Du ja sogar auch in Deinem Live-Set.

 

Also, mit Steve Hogarth verglichen zu werden, empfinde ich als große Ehre! Ich mag seine Lyrics oft nicht, und in letzter Zeit singt er mir einen guten Tick zu manieriert und gehaucht – aber sein Potential und auch sein Backkatalog sind für meine Ohren und meine Auffassung von dem, was ein Vokalist machen sollte, ganz großes Tennis.

Mein Ansatz ist technisch auch durchaus vergleichbar: Beide Gesangsstile setzen auf die gute alte italienische Schule und transportieren diese in den Pop/Rock. Das ist eher selten unter den Sängern außerhalb des sogenannten “Klassik”-Bereichs, und führt zu allem zu einem recht markanten Vibrato, einer starken Betonung der Maske und einem Stil, der der Idee, aus einem sehr reinen Piano dann verschiedene Potentiale fürs Forte zu schöpfen, verpflichtet ist: Daher auch Hogarths Hang zu einem am Legato orientierten Grundansatz (der ja so auffällt, wenn man den narrativen, vergleichsweise staccato agierenden Fish dagegen hört), den ich anscheinend nicht nur in der Theorie teile.

Musikalisch sehe ich mich aber ganz woanders. Marillion haben für mich, der ich ein echter Fanboy war, sehr stark nachgelassen. Dabei fand ich die frühen und mittleren h-Marillion durchaus mindestens gleichwertig zu den ersten vier Alben, die oft so mythisch aufgeladen werden... “Grendel” z.B. ist kompositorisch eigentlich echt übles Zeug, zusammengeklaut und wenig kohärent – aber emotional und aus dem damaligen Zeitgeist heraus durchschlagend. Mindestens die letzten 3 Marillion-Alben aber haben mich komplett kaltgelassen, und die Texte des letzten fand ich sogar wirklich grob misslungen.

Mein eigener Ansatz geht eher von der Idee aus, eklektisch mit meiner eigenen musikalischen Sozialisation umzugehen und dadurch neue Einflüsse für den Progressive Rock aufzuspüren. Man könnte es auch weniger hochtrabend ausdrücken: Ich mache genau das, worauf ich Lust habe, und versuche, mich nicht darum zu scheren, ob Industrial-Einflüsse verkaufsfördernd oder hemmend sein könnten...

 

OK, wenn Du schon musikalische Sozialisation sagst, dann musst Du auch ein paar Namen hinzufügen, denen Du aktuell etwas abgewinnen kannst.

Meine musikalischen Wurzeln sind so disparat, dass es wahrscheinlich kaum hilft, sie zu kennen: Ich habe in früherer Jugend viel, viel Dire Straits gehört, was man, wie ich finde, auch vereinzelt noch an meinem Gitarrenspiel hören kann. Danach kam The Cure: Auch da ist Robert Smiths Stil in meinem deutlich wahrnehmbar, finde ich. The Smiths waren meine Eintrittskarte in die Welt der Lyrics, die ich vorher als notwendiges Übel bei der Musik, die ich mochte, betrachtet hatte. Marillion haben mich in vielerlei Hinsicht beeinflusst: Pete Trewavas verkörpert für mich die perfekte Mischung aus melodischem und fundamentsetzendem Spiel, in Verbindung mit Mosley ein großartiges Beispiel dafür, wie man Rhythmusgruppen einspielen sollte. Rotherys emotionale Durchschlagskraft bleibt stets ein Ideal für meine Soli, auch wenn ich mich in Sound und emotionalem “Inhalt” ein wenig entfernt habe. Ansonsten kommt bei mir auch viel aus dem Industrial, Jazz, “Art Pop” (Björk, Radiohead...) und Postrock zusammen. Eigentlich kann ich nur mit Reggae und Zwölftonzeugs so richtig gar nichts anfangen.

 


Wie lange hast du an dem neuen Album gearbeitet?

Das ist schwer zu sagen. Auf Psychoanorexia sind viele Ideen, die noch aus den 90ern stammen, aber noch keinen Platz auf einem T-Album finden konnten. In den 3 Jahren, die die Produktion nach Anti-Matter Poetry gedauert hat, habe ich vor allem an Details geschraubt. Ich kann nur empfehlen, das Album mit Kopfhörer anzuhören. Viele Ideen sind genau dafür gemacht und entstammen meiner eher neuen Gewohnheit, beim Laufen z.B. mit Kopfhörer Musik zu hören.

Dabei hörst Du auch deine eigenen Alben?
Nee, meine eigenen Alben höre ich sehr selten. Bei der Vorbereitung der Live-Auftritte habe ich zwangsläufig wieder Kontakt zu meinen alten Veröffentlichungen bekommen, und ich muss zugeben, dass sie mir eigentlich immer noch ganz gut gefallen. Ich höre aber auch schrecklich viele Fehler im Sounddesign und im Mix, die ich einfach nicht schönhören kann, und insofern ist das ein zwiespältiges Gefühl. Insgesamt schäme ich mich aber für nichts davon, und das ist doch schon mal eine gute Sache.

 

Als Solokünstler muss man ne Menge basteln - wie viele Spuren waren es denn dieses Mal maximal?

„Kryptonite Monologues“ kommt auf 302 Spuren plus 32 Effekt-Spuren. Ich denke, das ist der Rekord – aber das sagt ja nicht viel aus. Viel interessanter ist, wie die Spuren interagieren...

 
Du hast ein neues Label!

Ja. Und das aus gutem Grund: Mein altes Label, PRR, hat sich mir gegenüber nicht in jeder Hinsicht korrekt verhalten. Insbesondere wurde ich für die Veröffentlichung der neuen CD mit einigen Halb- und Unwahrheiten geködert, die ich nur durch Zufall durchblicken konnte – um dann sofort abzuspringen. Vor allem hat mich PRR dreist belogen und seine Schulden nicht bezahlt, wollte mich aber zu neuen Lizenzen und Ausgaben zu ihren Gunsten bewegen. Ich bin bestimmt eher ein bisschen zu treu-doof für die Musikwelt, aber soooo doof nun auch wieder nicht. Bis heute habe ich für Anti-Matter Poetry übrigens höchstens 10% der mir zustehenden Tantiemen erhalten, und ich rechne nicht damit, von PRR auch nur einen Cent noch zu kriegen. Also, Leute, bestellt Anti-Matter Poetry doch entweder bei mir direkt. Wem das nicht passt, der könnte vielleicht angesichts dieser Situation darauf kommen, sie illegal runterzuladen und das Geld irgendwem zu spenden. Wer in irgendeiner Form über das Label bestellt, kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass beim Künstler nichts ankommt. Ich bin da übrigens kein Einzelfall – so ging das einer ganzen Menge Bands, auch aus Deutschland.

Ich wäre aber spätestens ein Album später sowieso zu Progressive Promotion Records gewechselt. Oliver Wenzler macht einen Wahnsinnsjob und hat alle meine Hoffnungen an Professionalität und Knowhow übertroffen.

 

Jetzt scheinst Du auch langsam auf den LIVE-Trichter gekommen zu sein - bleibt das trotzdem ein Soloprojekt, oder würde es Dich auch reizen, mal die "großen Kompositionen" aufzuführen?

Klar! Zahlst du die ca. 50 Musiker, die ich bräuchte? Dann fang ich sofort an, die Partitur drucken zu lassen!

Im Ernst: t live übt sich in Minimalismus und Experiment. Alles wird mit 2 Händen und 1 Stimme (also meistens Klavier und Gesang) bestritten, es gibt keine Samples, Loops oder sonstwas. Interessanterweise funktionieren die Songs so echt gut! Sie haben mit den CD-Hörerlebnissen wenig zu tun, aber sie haben ihre Seele noch. Im Gegenteil höre ich regelmäßig, ich solle doch auch im Studio viel mehr auf Minimalarrangements setzen, das stelle das Songwriting zu Gunsten der Musik stärker in den Vordergrund.

Ich finde beides interessant; aber live zu spielen ist in der Form, in der ich es jetzt tue, jedesmal wieder so intensiv und emotional fordernd, dass ich erschöpft bin wie nach einem Langstreckenlauf. Trotzdem: Das – und der Moment, in dem die CD aus dem Presswerk kommt! – sind die Momente, für die ich das Ganze mache.

 

Funktioniert das bei den neuen Songs besser als bei den alten?
Also, das müsstest du das Publikum fragen. Ich selbst sehe eigentlich keinen grundlegenden Unterschied. Ich habe live The Aftermath of Silence, Kryptonite Monologues und The Irrelevant Lovesong schon gespielt und hatte nicht das Gefühl, dass die Versionen besser oder schlechter ankamen als z.B. She Said, August in Me oder I Saved the World. Ich kann aber auch meine Liebe zu gegen den Strich gebürsteten Coverversionen nicht verhehlen: Schon mit Scythe haben wir mal eine Cool-Jazz-meets-Tom-Waits-Version von “Roads” (Portishead) im Programm gehabt, die ich immer noch für sehr gelungen halte. Ich neige auch dazu, die Setlists während der Konzerte in die Tonne zu treten und einfach das zu spielen, was gerade in die Stimmung passt. Das ist der große Vorteil des Solo-Musikers!

 

Stimmt, Scythe gabs ja auch noch, die hatte ich gar nicht mehr auf dem Schirm. Was ist eigentlich mit denen passiert?

Scythe war sowas wie meine Kinderstube. Ich hatte das Glück, dass Udo Gerhards und ich praktisch in Nachbardörfern aufgewachsen sind und so unsere musikalischen Eskapaden kombinieren konnten. Udo ist inzwischen im tiefsten RIO-Gewässer unterwegs, was mir gar nicht liegt, aber ich hätte gewisse Horizonte niemals zur Kenntnis genommen oder gar angesteuert, wenn Udos musikalische Sophistication mich nicht dauernd angeschubst hätte. Wir standen in einer Art freundschaftlichem Wettbewerb, mit unseren Komposition immer das Niveau der letzten des anderen Schreiberlings mindestens zu halten. Ferner war ich sowas wie Udos melodisches Gewissen, während Udo meinen Kompositionen eine gewisse Kantigkeit hinzugefügt hat. Sicher war es auch eine tolle Sache, dass der Keyboarder – Udo – eher gitarrenbetonte Musik präferierte, während ich eher am Klavier schrieb und so die Keyboards ein großes Gewicht erhielten. Es war einfach eine großartige Zusammenarbeit, aus der ich wahnwitzig viel mitgenommen habe. Allerdings eben auch, wie ermüdend und verwässernd Band-Diskussionen sein können. Manchmal z.B. bestand Martin (Walter, Drums) darauf, dass er mein Strophenschema ja konterkarieren könne (“Ah, das sind 7x 7/8! Dann spiele ich 3x 13/8 und 1x 10/8, dann kommt es ja auch hin!”), während ich der Ansicht war, dass dies dem Fluss und der Grundidee die Zähne ziehen würde bzw. ein unpassendes neues Gebiss einsetzen würde... Usw. Ohne die anderen Scythe-Mitglieder wäre ich aber auf viele Ideen für die Solo-Scheiben gar nicht gekommen.

Ich habe übrigens immer noch fest vor, eine CD mit alten Scythe-Stücken aufzunehmen. “Divorced Land”, unser einziges Album, ist meines Erachtens voll mit großartigen Kompositionen! Leider hatten wir damals weder KnowHow noch Equipment, um diese auch angemessen einzuspielen – es gab nicht mal einen einzigen Kompressor und nur ein Hallgerät... Insofern grummelt es bei mir immer noch im Magen, wenn ich an das Potential des Materials denke. Da wird noch was passieren!