Rock-, Pop- und Szene-News und mehr....
Interview September 1998. Weitere Interviews mit Marillion hier.
Als 1988 Sänger Derek William Dick, alias Fish, die Band verließ, gingen viele alte Fans mit ihm. Mit Neuzugang Steve Hogarth kamen zwar auch viele neue dazu, trotzdem konnten die Briten nicht mehr an alte Erfolgstage anknüpfen, trotz vieler grandioser und unterschiedlicher Alben. Kaum eine CD war wie die andere – auf das melodisch-bombastische Debüt mit Ex-How We Live-Sänger Hogarth, „Seasons End“ folgte die eher poppige „Holidays in Eden“, wiederum gefolgt vom künstlerischen Meisterwerk, dem Konzeptalbum „Brave“. Seitdem hat man das Gefühl, dass das Quintett sich neu zu orientieren versucht. Nach dem lauen „Afraid of Sunlight“ hatten sie sich schon auf ihrem letzten Album „This strange Engine“ weiter von ihren starren „progressiven“ Wurzeln entfernt und ihren eigenen fortschrittlichen MelodicRock Sound kreiert. Das neue Album „Radiation“ führt diese Entwicklung weiter, wenn auch in eine überraschend neue Richtung. Ungewohnt rockend und direkt stellen sie ihre Fans erneut auf die Toleranz-Probe – und sind sich dabei keiner Schuld bewußt.
Wie findest Du Euer
neues Album?
Mir gefällt es sehr gut, und offensichtlich kommt es auch sehr gut an. Zumindest klang das in den Interviews, die wir bisher gemacht haben, an. Und das erleichtert, denn wenn man ein Album fertig stellt, kommt man an den Punkt, wo man selber sagt „es ist gut“ – aber ist es das damit auch? Darum muß man dann abwarten, wie es die Hörer aufnehmen.
Das Album schlägt einmal mehr eine, im Vergleich zum Vorgängeralbum, ziemlich neue Richtung ein –Wie würdest Du dieses Album beschreiben?
Es dröhnt, es ist radikal, ich glaube es hat Energie und Intensität und es hat zwei verschiedene Seiten – die schwere, dunkle Seite und die leichte, fröhliche; eine Seite übrigens, die wir in unseren bisherigen Alben selten ausgelebt haben weil wir immer dachten, ´nee, das können wir nicht machen´. Ja, ich glaube man kann sagen, es ist eine sehr unterschiedliche Platte. Wir haben bewußt mit neuen Sounds herumexperimentiert, mit neuen Gitarrensounds, mit Keyboard-Sounds, die wir vorher nicht benutzt haben und auch die Art, wie der Gesang teilweise aufgenommen wurde, ist neu.
Die Texte sind
diesmal ausschließlich von Dir, gibt es ein übergreifendes Thema?
Wenn man eine Parallele sucht, könnte man sagen, dass mehrere Texte mit dem Zerbrechen von Träumen zu tun haben. „Three Minute Boy“ z.B., ist über den Jungen, der mit irgendeinem Schwachsinns-Song den internationalen Megaerfolg hat, und der Text verbrät dann alle Rock´n´Roll Klischees. Er heiratet eine Schauspielerin, alles aus Liebe natürlich, er geht auf Tournee und betrügt sie und eigentlich läuft gar nichts. Er hat keine neuen Ideen für Songs, das Geld geht aus, seine Frau verläßt ihn und so weiter – was eben im Rock´n´Roll so alles passieren kann. Es gibt viele Referenzen und Beispiele für diese Art von Achterbahnfahrt.
Warst Du selber in so
einer Achterbahn?
Ich bin immer noch drin, wenn auch nicht am Spice Girl-Ende von ihr, schon etwas ruhiger, aber es bedeutet immer noch Streß für die Psyche. Du mußt dich weiterentwickeln, mußt weiterhin Musik abliefern, und was noch mehr ist, du mußt dir immer deines eigenen Images bewußt sein. Du stehst da vor 10,000 Menschen, die dich als den Gott sehen, und das bestimmt, wie du dich selbst siehst. Und zwei Wochen später sitzt du in deinem Zimmer und sollst ein Album schreiben – diese Dinge mußt du irgendwie verarbeitet.
Menschen, die normale Jobs verrichten, können ihren eigenen Status sehr genau einschätzen – und bestimmen; duch das Leben, das sie führen, das Auto welches sie fahren. Und wenn sie plötzlich ihren Job verlieren oder ein anderer, radikaler Umbruch passiert, dann verlieren sie ihren Halt, denn sie wissen nicht mehr, wie es weitergeht. Daran gehen viele kaputt. Wenn man einen Job macht wie meinen, mußt du ständig dich mit diesem Auf und Ab beschäftigen, und das ist, was sehr hart sein kann. Und deswegen enden viele Künstler in Drogen oder Kliniken. Es sind diese Kopfspiele.
[„These chains“ hat eine ähnliche Thematik. Es handelt davon, was passiert, wenn das Leben eines Menschen plötzlich zusammenbricht und er sich plötzlich Gedanken machen muß über seine Zukunft. Das Stück fängt mit einem ziemlich trostlosem Bild an, aber was es eigentlich sagen will, ist, das du mit jedem neuen Sonnenaufgang massenhaft neue Möglichkeiten hast, neu anzufangen. Die meisten Ketten, die uns umgeben, sind in unserem Kopf und selbstgemacht, wenn wir ehrlich sind. Wir können doch einfach durch die Tür gehen und nicht zurückkommen.]
[„Under the Sun“ und das kurze Intro ist dagegen über das Ozonloch mit der Aussage „ist doch fein, wenn dadurch die Sommer wärmer werden und die Polare schmelzen und sogar der Strand sogar näher ans Haus kommt“. Also ein Song für die Umwelt mit einer Prise Humor.]
[„Born to Run“ ist über die Arbeiterklasse Nordenglands, wo ich herkomme. Eine bestimmte Art von Lebensstil eine bestimmte Art von Moral, die ich persönlich verweigerte, weswegen ich abgehauen bin. Aber ich habe festgestellt, dass man davor nicht wegrennen kann, weil es zu einem gewissen Grad in mir drin ist. Du kannst nicht weglaufen, denn diese Wurzeln bist Du.]
Es scheint, Ihr habt eine Menge neuer Einflüsse aufgesaugt für diese neue Platte – kannst du welche nennen?
Ich kann dir sagen was ich in den Songs höre, was aber nicht heißen soll, das wir versucht haben, etwas nachzueifern. Ich höre Lenny Kravitz, David Bowie, BB King oder die The Beatles. Oder auch Led Zeppelin oder The Pogues. Und „A few words for the dead“ klingt nach „Bladerunner“ oder „Apocalypse now“. Also viele neue Namen und Vergleiche.
Warum? Wollt ihr eine
neue Art von Fans ansprechen?
Natürlich. Immer. Aber es ist nicht unser Job, darüber nachzudenken, wen wir erreichen könnten. Wenn wir anfangen würden, nicht mehr nur für uns selbst Musik zu schreiben, würden wir unsere künstlerische Freiheit aufgeben und würden anfangen, Fabrikarbeiter zu werden.
Ist das Album die
logische Fortsetzung von „This strange Engine“?
Ich weiß nicht. Logisch ist da gar nichts. Manche mögen vielleicht eine bestimmte Entwicklung sehen, aber das ist nicht, was wir fühlen. Wir planen nicht. Wir jammen im Studio für eine bestimmte Zeit, und sehen, was dabei herauskommt. Das meiste ist nutzlos später, aber wir nehmen erstmal alles auf. Und dabei setzen wir uns keine Grenzen, es hat kein bestimmter Stil zu sein. Wenn es interessant klingt, nehmen wir es heraus, und es könnte auf dem Album landen. Ganz am Ende sitzen wir dann zusammen und sehen –„oh, so eine Platte haben wir also gemacht.“ Das ist schon eine sehr sonderbare Art zu schreiben, weil du die ganze Zeit quasi im Dunklen sitzt, und nicht weißt, was herauskommen wird. Aber gleichzeitig ist es eben auch nicht langweilig in dieser Band zu sein.
Das Album kommt ziemlich schnell nach dem letzten Doppelpack CD/Tour...
Ja, wir sind eine Woche, nachdem wir die letzte Tournee beendet haben, ins Studio gegangen um die neue Platte zu schreiben. Das hing damit zusammen, dass die letzte Tournee unvorhergesehen länger wurde durch den USA-Abstecher, den wir ja eigentlich gar nicht geplant hatten. Wir wollten für 2-3 Wochen touren, fingen an im April und kamen nicht vor Oktober zurück. Ich weiß nicht, ob das hier in Deutschland so bekannt geworden ist, in Amerika wurde dieser „Tour-Fund“ gegründet, und plötzlich haben tausende Menschen Geld gespendet, um uns herüberzuholen, insgesamt sind 60,000 Dollar zusammengekommen, und da mußten wir natürlich hin.
Jetzt wieder die Tour
mit der neuen Platte, wie geht es weiter?
Geplant sind 20 Daten auf dieser Tour (obwohl, man weiß ja nie...), aber der momentane Plan ist, danach wieder ins Studio zu gehen und ein neues Marillion-Album aufzunehmen. Vielleicht schon im Dezember.
Wieder keine Zeit für
eine Pause?
Nein, eigentlich nicht. Um ehrlich zu sein, haben wir dafür auch gar kein Geld. Und längere Pausen können wir machen, wenn die Zeit dafür reif ist. Aber im Moment haben wir die Energie dafür. Und Pausen zu machen, kann auch sehr destruktiv sein, weil du wieder völlig raus kommst und dein Gehirn sich schlafen legt, und es dauert eine Weile, bis man wieder kreativ ist. Aber man kann sowieso nie sagen, wie es richtig ist. Ich glaube, dies ist der einzige Beruf der Welt, wo du ehrlich sagen kannst, du hast absolut keine Ahnung, wie es geht oder dass du nichts darüber gelernt hast. Also ich für meinen Teil kann ehrlich sagen, dass ich nicht weiß, wie das Musikbusiness funktioniert. Ich weiß nicht, wie man Platten ins Radio oder Videos ins Fernsehen kriegt oder wie man eine Platte macht, die eine Millionen verkauft. Und das nach zwanzig Jahren, die ich dafür gearbeitet habe. Wenn ich ein Zimmermann wäre, oder ein Fernsehtechniker oder Arzt oder was weiß ich, da würde ich sagen, wüßte ich nach zwanzig Jahren, was ich zu tun habe. Aber dies ist ein seltsamer Job. Man lernt, aber man weiß nicht mehr, weil alles möglich ist, und es gibt kein richtig oder falsch. Aber das ist eben, was daran so einen verdammten Spaß macht. Wer will schon Routine und Langeweile?